2021-10-16
Dorothee Roer, Renate Maurer-Hein
Frage: Können Theorien Gebrauchswert haben? Oder: Was hat der Gebrauchswert in der wissenschaftlichen Diskussion zu suchen?
Nach marxistischem Verständnis kann alles, Materielles wie Immaterielles, also auch Theorie, ein „Ding“ sein = Gebrauchswert haben. Mit Eichhorn bestimmt sich der Gebrauchswert eines Dings aus seiner Nützlichkeit. „Die Nützlichkeit eines Dinges macht es zum Gebrauchs-Wert, der also einerseits bedingt ist durch die natürliche Eigenschaft von Dingen, unmittelbar oder vermittelt irgendein Bedürfnis zu befriedigen, andererseits aber nur als Gegenstand von menschlichen Bedürfnissen Gebrauchs-W. ist und sich nur im Gebrauch realisiert.“ (Eichhorn 1977, 717). Das heißt zweierlei: Wenn wir nach dem Gebrauchswert von Theorie (in diesem Fall der Tätigkeitstheorie) fragen, dann fragen wir einerseits nach den „natürlichen Eigenschaften“ des Dings = dieser Theorie. Und andererseits fragen wir nach unseren „menschlichen Bedürfnissen“ als Wissenschaftler*innen.
Worin konkret könnte nun der Gebrauchswert wissenschaftlicher Theorie bestehen? Ohne hier tiefer in die erkenntnistheoretischen Debatten um Wesen und Funktion von Wissenschaft einzusteigen (vgl. dazu z.B. Bernal 1978), halten wir fest: als kritische Psychologinnen mit einer Nähe zu historisch-materialistischem Denken gehen wir davon aus, daß Theorien Deutemuster für Realität sind. Eine „brauchbare“ Theorie sollte u.a. eine möglichst umfassende Deutung der zu untersuchenden Realität erlauben, in sich widerspruchsfrei sein und, für die Sozialarbeitswissenschaften besonders wichtig, Perspektiven für die Praxis eröffnen. Sie sollte damit unser „Bedürfnis“ befriedigen, (soziale) Wirklichkeit wirklich, d.h. umfassend, zu verstehen. Zugleich erwarten wir von ihr, daß sie auf ein Verständnis nachhaltigen professionellen Handelns (in der Sozialen Arbeit) orientiert.
These 1: Tätigkeitstheorie hat für uns als kritische Psychologinnen einen hohen Gebrauchswert, weil sie uns hilft, ein „chronisches“ Problem in den Subjekt- und Sozialwissenschaften zu erkennen und zu bearbeiten: die (Nicht-) Gestaltung des Verhältnisses von Subjekt und Gesellschaft.
Für den unvoreingenommenen Blick scheint klar: Individuum ist nicht ohne Gesellschaft und Gesellschaft ist nicht ohne Individuum zu denken; sie sind (wie auch immer) aufeinander bezogen. In den bürgerlichen Subjekt- und Sozialwissenschaften gelingt allerdings selten eine tragfähige Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Gesellschaft, Psychischem und Sozialem. Beide Konstrukte werden als einander antagonistisch gegenüberstehende Qualitäten begriffen (erklärend dazu z.B. Tomberg 1971, Tomberg 1973). Diese Entgegensetzung verunmöglicht nachgerade eine Verhältnisbestimmung. Als (Schein-) Lösung bietet sich an, eine der Dimensionen erst gar nicht zu thematisieren. In der Geschichte der Psychologie dominieren von Beginn an ungesellschaftliche und ahistorische, z.B. ontologische und biologische Subjekt-Konstruktionen (kritisch dazu z.B. Jaeger / Staeuble 1978, Jüttemann 1986, Mattes / Rexelius 1986). Allenfalls findet sich die Perspektive der Gesellschaftlichkeit des Individuums etwas unterbelichtet in der Subdisziplin „Sozialpsychologie“. In der soziologischen Theoriebildung dagegen wird dem Subjekt in der Regel kaum Aufmerksamkeit gewidmet (außer in Randdisziplinen wie Mikrosoziologie, qualitative Sozialforschung etc.). Wie sich das Ausklammern einer Verhältnisbestimmung Subjekt – Gesellschaft in den Sozialarbeitswissenschaften auswirkt, werden wir in These 2 und 3 diskutieren.
Im Ergebnis gleich, stehen sich in den meisten subjekt- und sozialwissenschaftlichen Theorien in den verschiedenen Varianten das a-soziale Subjekt und eine ent-individualisierte Gesellschaft (=Struktur) fremd bis unversöhnlich gegenüber. Menschen können nicht als eigenständige, handelnde, ihrem Wesen nach gesellschaftliche Subjekte gesehen werden, Gesellschaft nicht als Ort und Produkt der Gestaltung durch ebendiese Subjekte. Der Blick auf Veränderung und Veränderbarkeit ist verstellt, der jeweilige Status Quo wird zur Naturtatsache stilisiert (vgl. z.B. Roer 2010, 55).
Anders als in den bürgerlichen Subjekt- und Sozialwissenschaften werden bei Leontjev Subjekt und Gesellschaft, vermittelt über das Konstrukt „Tätigkeit“, als dialektische Einheit gefaßt. Indem das Subjekt in seiner Tätigkeit fortwährend zwischen sich und seiner Welt vermittelt, erschafft es sich und seine Welt (damit auch die Gesellschaft) ständig neu. Subjekte werden so in ihrer psychischen Einmaligkeit wie in ihrer Gesellschaftlichkeit und Historizität gesehen, Gesellschaft wird verstanden sowohl als Struktur als auch durch Subjekte hergestellt.
Eine solche Theorie kann komplexe und konsistente Annahmen formulieren, hat eine vergleichsweise große Reichweite. Zudem kann sie sowohl psychische wie gesellschaftliche Ist-Zustände und Veränderungen eindeutig als Prozesse bzw. Bewegung beschreiben. So werden sie nachvollziehbar, in ihrem Gewordensein begriffen. Zugleich lassen sie sich als Produkt struktureller Entwicklung und individueller Tätigkeit bestimmen.
These 2: Tätigkeitstheorie hat für uns als Lehrende in der Aus- und Weiterbildung von Sozialarbeiter*innen einen hohen Gebrauchswert, weil sie in der Sozialarbeits-Wissenschaft eine widerspruchsfreie Formulierung des Verhältnisses von Subjekt und Gesellschaft ermöglicht.
Innerhalb der Disziplin besteht weitgehend Konsens darüber, daß Soziale Arbeit immer sowohl individuelle Hilfe / Unterstützung als auch die Umsetzung sozialpolitischer Zielsetzungen umfaßt. Deshalb kommt die Disziplin (im Unterschied z.B. zur Psychologie oder Soziologie) an einer Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Gesellschaft nicht vorbei. Die Arbeit an dieser Schnittstelle (in der Sozialen Arbeit konkretisiert als Verhältnis “Klient*in versus hoheitlich agierende Institutionen der Sozialverwaltung“), ist für die Sozialarbeitswissenschaften konstitutiv; sie wird in den meisten Theorien der Disziplin auch geleistet. Allerdings führen die Ergebnisse in der Regel eher zu Problemen als zu Lösungen.
Exemplarisch soll das verdeutlicht werden an der Theorie des doppelten Mandats [1] = der Bestimmung Sozialer Arbeit als einer Profession, mandatiert durch den Staat einerseits und durch die Klient*innen andererseits. Dieses Konstrukt (vgl. z.B. Lutz 2020), in den 80ern entwickelt, ist eine Säule des Selbstverständnisses der Profession und Disziplin. Aktuell wird der Ansatz z.B. im Zusammenhang mit dem Kinderschutzthema stark diskutiert (z.B. Kelle / Dahmen 2019, Deichmann 2020). Das erste Mandat (Mandat des Staates, in der Theorie des doppelten Mandats definiert als Kontrolle) beschreibt die gesellschaftliche Dimension sozialarbeiterischen Handelns, das zweite Mandat (das der Klient*innen, in dem Ansatz = Hilfe) benennt die subjektive Dimension. Beide Mandate sollen im professionellen Handeln gleichwertig sein. Soziale Arbeit würde danach einerseits durch gesellschaftliche Strukturen, andererseits durch die Intentionen, Bedürfnisse etc. der betreffenden Subjekte (Klient*innen) bestimmt, also auf zwei Ebenen stattfinden.
Aber in welcher Beziehung stehen die Mandate zueinander? Meist ist in diesem Zusammenhang die Rede von einem Spannungsverhältnis. Das vermittelt, daß die beiden Dimensionen in einer konflikthaften Beziehung zueinander stehen (können), die auch als Strukturproblem oder „prinzipielle Widersprüchlichkeit“ (Lutz 2020) beschrieben wird. Wie dieses Verhältnis genau zu denken ist, welches Mandat sich wann, wie und warum „durchsetzt“ und welche Folgen das für die Realisierung des je anderen Mandats hat, ist in der Regel nicht Gegenstand der Analyse. Das erstaunt umso mehr, als sich diese Leerstelle mit einer sehr naheliegenden Frage schließen ließe, nämlich der, wie Interventionen in der Sozialen Arbeit überhaupt zustande kommen.
Sowohl die Praktiker*innen wie die Theoretiker*innen sind sich darin einig, daß das staatliche Mandat (= Kontrolle) dem klientelischen Mandat (=Hilfe) immer vorgelagert ist, es löst die Intervention erst aus. Ohne Kontrollbedarf keine Hilfsmaßnahmen. Daraus folgt u.a.: „Hilfe“ wird in ihrer Form, quantitativ und qualitativ, immer durch „Kontrolle“ bestimmt. In welcher Weise das genau geschieht, läßt sich anhand der einschlägigen sozialpolitischen Gesetze, Verordnungen, Durchführungsbestimmungen etc. klären. Erwartungen, Wünsche etc. der Klient*innen können nur im Rahmen dieser Vorgaben berücksichtigt werden. In jedem Fall kann die Hilfe nur gewährt werden, wenn das Anliegen auf dem Wege der Antragstellung so in ein Defizit umdefiniert wird, daß die Voraussetzung für staatlichen Handlungsbedarf vorliegt (zugespitzt: auf diese Weise vollzieht sich staatliche Enteignung der Rechte der Klient*innen). Also wird die gesamte Intervention dominiert von der für alle staatlich autorisierten sozialen Maßnahmen geltenden Zielsetzung der Normalisierung.
Das faktische Mißverhältnis zwischen gesellschaftlicher Determination und subjektiven Einflußmöglichkeiten spiegelt sich schon in der Tatsache, daß das erste Mandat real vorhanden = ausformuliert, damit überprüfbar ist, während das zweite Mandat nicht in einer objektivierten Fassung existiert.Vielmehr scheint es dem Selbstverständnis der Sozialen Arbeit als helfender Profession zu entstammen. D.h. Soziale Arbeit ist und bleibt ihrem Wesen nach Normalisierungsarbeit. Diese Tatsache ist je nach Arbeitsfeld stärker oder schwächer ausgeprägt, deutlicher oder weniger deutlich erkennbar, direkter oder indirekter, lässt sich aber als Prinzip über alle Differenzierungen hinweg nachweisen.
Wenn also Fakt ist, daß das erste Mandat die reale Kraft im professionellen Prozess ist, das zweite real eine goodwill Erklärung, eine ideologische Setzung, dann fragt sich, was die Erzählung von der Mandatierung Sozialer Arbeit durch Klient*innen wirklich sagt. Indem diese Rede, wie gezeigt, einen so geringen Anhalt an der Empirie hat, wirft sie hauptsächlich Fragen und Zweifel an ihrer Stringenz auf und verweist so ständig auf das, was sie eigentlich verschleiern sollte: Soziale Arbeit ist und bleibt ein sozialpolitisches Steuerungsinstrument. Dieses Paradoxon tritt noch deutlicher hervor, wenn man die Erzählung um das dritte Mandat (die an den Menschenrechten orientierte Selbstmandatierung) erweitert.
Ähnliche Tendenzen der Verschleierung der dunklen Seiten der Provenienz der Profession finden sich auch in vielen anderen Theorien des sozialarbeitswissenschaftlichen Mainstreams. Insofern sie sich nicht wirklich konsequent von dem obrigkeitsstaatlichen Modell Sozialer Arbeit verabschieden, eignen sie sich auch nicht wirklich als wissenschaftliche Begründungen für eine Praxis, die sich von den Klient*nnen her bestimmt, also eine aus unserer Sicht kritische, gesellschaftsverändernde Soziale Arbeit.
Und Leontjev? Könnte die Tätigkeitstheorie die Grundlegung für eine solche kritische Soziale Arbeit liefern? Tätigkeitstheoretisch würden wir in unseren Überlegungen von der Annahme zweier tätiger Subjekten ausgehen. Beide, die Professionelle wie die Zielperson, wären innerhalb ihrer Welten permanent in Prozesse der Aneignung und Vergegenständlichung involviert, auf diese Weise nimmt die Analyse immer zugleich die Tätigkeit der Subjekte und die Strukturen der gesellschaftlichen Räume, innerhalb derer sie tätig sind, in den Blick. Diese Konstruktion führt dazu, beide Protagonist*innen als Persönlichkeiten und Expert*innen ihres jeweiligen Lebens zu betrachten. Dabei würden sie mit sehr unterschiedlichen Zielsetzungen, Mitteln, Möglichkeiten etc. agieren. Aus einem Widerspruch zwischen vermeintlich zwei Mandaten wird in dieser Lesart der Widerspruch zwischen zwei autonomen, miteinander agierenden Subjekten: dieser Widerspruch zeigt sich, lässt sich analysieren und vielleicht auch bearbeiten (vgl. weiter unten).
Offen bleibt in dieser Konstruktion die Frage, wie die beiden theoretisch so unterschiedlichen Protagonist*innen real miteinander handeln. Leontjevs Theorie der Persönlichkeit, konsequent historisch und gesellschaftlich konstruiert, wurde im Rahmen seiner Allgemeinen Psychologie erarbeitet. Eine interpersonelle Perspektive ist nicht Gegenstand seiner Theorie, kann aber, wegen ihrer historisch-materialistischer Fassung, durchaus aus ihr heraus entwickelt werden. Das wollen wir im Folgenden ansatzweise versuchen.
Miteinanderhandeln, Interaktion, Interpersonalität meint die Wechselwirkung zwischen agierenden Subjekten. Nicht die einzelnen Akteur*innen sind Gegenstand der Untersuchung, sondern die Bewegung zwischen ihnen. Analog Leontjevs Verständnis von Tätigkeit als einem „…Prozeß, in dem die wechselseitigen Übergänge zwischen den Polen ‚Subjekt – Objekt‘ verwirklicht werden.“ (Leontjev 1979, 83), kann man sagen, das interpersonelle Geschehen ist der Prozeß der wechselseitigen Übergänge zwischen unterschiedlichen Akteur*innen (Subjekten, Gruppen usw.). Dieser Prozess läßt sich beschreiben als dialektische Bewegung, als Bewegung von Widersprüchen und durch Widersprüche, die dem Prozeß seine spezifische Qualität und Richtung (im Sinne von Entwicklung) geben.
Das Menschenbild der Tätigkeitstheorie und die Hypothese „Interaktion als Prozess der Übergänge zwischen Akteur*innen“ sensibilisieren für das Typische interpersoneller Prozesse in der Sozialen Arbeit. Aus dieser Sicht stellen sie sich dar als dominiert von einer Asymmetrie der Ressourcen und Gestaltungsmöglichkeiten der Kontrahent*innen und einer großen (aus dieser Asymmetrie resultierenden?) gegenseitige Fremdheit der Akteur*innen. Dadurch folgt, daß sich in solchen Interaktionen besonders scharfe, oft antagonistische (die Wechselwirkungen dominierende) Widersprüche (genaueres dazu vgl. z.B. Roer / Maurer-Hein 2019) herausbilden.
Der Gebrauchswert der tätigkeitstheoretischen Perspektive ist für uns enorm. Der Ansatz bietet uns nicht nur die professionskritische Möglichkeit, Gründe für Erfolg und Scheitern sozialarbeiterischer Intervention zu erkennen, er die theoretische Grundlage für eine kritische, Praxis der Sozialen Arbeit (mehr dazu z.B. Roer / Maurer-Hein 2019).
These 3: Tätigkeitstheorie hat einen hohen Gebrauchswert für die professionelle Praxis der Sozialen Arbeit, indem sie den Professionellen ermöglicht, konstruktiv mit den Widersprüchen ihres beruflichen Alltags umzugehen
Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist die Analyse professioneller Interaktion, tätigkeitstheoretisch verstanden als Bewegung zwischen den Protagoist*innen. Die Bewegung in den Mittelpunkt der Anayse zu stellen, heißt für die Professionelle, immer zugleich sich und die Klientin im Blick zu haben, beide als gleichwertige Akteur*innen wahrzunehmen, mit allem, was sie in ihrer Unterschiedlichkeit ausmacht: ihren Persönlichkeiten, ihrem Gewordensein, ihren Lebenswelten, den unterschiedlichen Zugängen zur „Hilfe“-Situation etc. Dieser Ansatz ist durchaus nicht selbstverständlich und weicht deutlich ab von dem herkömmlichen Vorgehen, das zunächst und vor allem auf Veränderung der Situation der Betroffenen zielt, d.h. nur eine Blickrichtung hat. Die Klientin, das Gegenüber, kann in diesem Szenario konsequent nur als Gegenstand der Bemühung, als passive Größe erscheinen.
Wenn die pädagogische Intervention aber (?) als Bewegung zwischen zwei (unterschiedlichen) Protagonist*innen gesehen wird, heißt das auch, diese Bewegung als Ko-Produktion (Ko = gemeinsam von Anfang an; Produktion = Tätigkeit als Prozess) zu begreifen und den professionellen Prozess entsprechend zu gestalten. Ko-produktive sozialarbeiterische Praxis gilt unstrittig als Format nachhaltigen Handelns (sie wird z.B. in den meisten Empowerment-, Recovery-, Partizipations-, etc. Ansätzen thematisiert) und kann damit auch die von uns intendierte kritische Soziale Arbeit anleiten. Aus der Sicht auf sozialarbeiterische Intervention als Bewegung zwischen Protagonist*innen läßt sich zudem eine Methode professionellen Handelns ableiten, die lehrbar und überprüfbar ist.
An anderer Stelle (Roer / Maurer-Hein 2019) haben wir gezeigt, daß in der Sozialen Arbeit Interaktionen aufgrund prinzipieller, aber gewöhnlich nicht thematisierter Widersprüche oft in unproduktive Prozesse der Stagnation und Entfremdung münden. Um zu begreifen, was da passiert und wie, ist es notwendig, gerade auch die Widersprüche tätigkeitstheoretisch in den Blick zu nehmen.
Auf den Widerspruch sehen heißt, nicht nur sehen, was geht (s.o. = die Ko-Produktion) sondern auch sehen, was nicht geht, das heißt: objektive und subjektive Hindernisse und Widersprüche auf seiten beider Protagonist*innen und in der Interaktion zwischen ihnen benennen, sie so zum Gegenstand der Ko-Produktion zu machen, um auf diese Weise doch wieder mit ihnen umgehen zu können (indem sie, wo möglich, behoben werden oder stehen gelassen oder aus der Maßnahme ausgeklammert werden, oder…). Wesensmäßige und Schuldzuschreibungen (= klassische „Bremsklötze“ für eine produktive Beratung und Unterstützung) können in einem solchen Verfahren gar nicht entstehen.
Beim Sichten des Unthematisierten kann die Professionelle auch auf Widersprüche stoßen, die sie für unlösbar und prinzipiell kontraproduktiv für den Prozess hält. In solchen Fällen kann sie die Maßnahme in der bisherigen Form beenden und unter Umständen auf nicht-pädagogischem Weg weiter an dem Problem arbeiten, z.B. politisch (was natürlich nicht heißen soll, daß sie nicht auch ohne die Erfahrung solch gravierender Fallprobleme politisch aktiv sein kann). Arbeiten an und mit Widersprüchen hilft damit, professionelle Spielräume auszuloten und zu erweitern.
Wir hoffen gezeigt zu haben, welchen Gebrauchswert Tätigkeitstheorie für die Theorieentwicklung und das Verständnis der Praxis der Sozialen Arbeit hat. Der tätigkeitstheoretische Blick hat uns in der Aus- und Weiterbildung, in Supervision und Intervision beste Dienste geleistet. Eichhorn betont, daß Gebrauchswerte immer den stofflichen Inhalt des gesellschaftlichen Reichtums bilden (vgl. Eichhorn 1977, 717). In diesem Sinn würden wir uns wünschen, daß auch weiterhin mit vielfältigem Gebrauch der Tätigkeitstheorie vielfältig zum gesellschaftlichen Reichtum beigetragen wird.
Lit.:
Bernal, John Desmond (1978) Sozialgeschichte derWissenschaften, Bd.1 Entstehung und Wesen der Wissenschaften, die Wissenschaften im Altertum, die Wissenschaften im Zeitalter des Glaubens, Reinbek: Rowohlt
Deichmann, Carina (2020) Das Doppelmandat in der sozialen Arbeit. Spannungsverhältnis zwischen Hilfe und Kontrolle, …………
Kelle, Helga / Dahmen, Stephan (hg.) (2019) Ambivalenzen des Kinderschutzes. Empirische und theoretische Perspektiven. Weinheim und Basel: Beltz Juventa
Jaeger, Siegfried / Staeuble, Irmgard (1978) Die gesellschaftliche Genese der Psychologie, Frankfurt/M. / New York: Campus
Leontjev, Alexej N. (1979) Tätigkeit Bewußtsein Persönlichkeit, Berlin/Ost: Verlag Volk und Wissen
Lutz, Ronald (2020) Doppeltes Mandat (online) Socialnet Lexikon, Bonn: socialnet 13.01.2020, Zugriff: 17.09.2021
Mattes, Peter / Rexilius, Günter (1986) Über die Wissenschaft Psychologie und die, die sie betreiben, in: Grubitzsch, Siegfried / Rexilius, Günter (hg.) Psychologie. Theorien, Methoden, Arbeitsfelder. Ein Grundkurs, Reinbek: Rowohlt, S.681-698
Roer, Dorothee / Maurer-Hein, Renate (2019) Treffen zwei tätige Subjekte aufeinander- die tätigkeitstheoretische Sicht auf Interaktion in der Sozialen Arbeit, in: Tätigkeitstheorie. Journal für tätigkeitstheoretische Forschung in Deutschland, Heft 15, 2019, S.139-168
Roer, Dorothee (2010) Selbstverständlich können marginalisierte Menschen (wieder)sprechen! Aber: Können wir sie auch verstehen? In: Dege, Martin / Grallert, Till / Dege, Carmen / Chimirri, Niklas (hg.) Können Marginalisierte (wieder)sprechen? Zum politischen Potenzial der Sozialwissenschaften, Gießen: Psychosozial-Verlag, S.53-78
Staub-Bernasconi, Sylvia (2018) Soziale Arbeit als Handlungswissenschaften auf dem Weg zu kritischer Professionalität. 2. vollständig überarbeitete u. aktualisierte Ausgabe, Opladen: Verlag Barbara Budrich
Tomberg, Friedrich (1971) Was heißt Bürgerliche Wissenschaft, Das Argument 13, 461-475
Tomberg, Friedrich (1973) Bürgerliche Wissenschaft. Begriff, Geschichte, Kritik, Frankfurt/M.: Fischer
[1][1] Wir vernachlässigen an dieser Stelle die Theorie von drei Mandaten (= Tripelmandat, vgl. z.B. Staub-Bernasconi 2018 ). Das dritte Mandat (= die wissenschaftliche und ethische Selbstverpflichtung der Profession) ist nach unserem Verständnis weniger ein Mandat im eigentlichen Sinn, als vielmehr eine moralisch-ethische Meßlatte zur Bewertung des eigenen Tuns bzw. zur Abwehr von Zumutungen seitens des ersten Mandats.
Beitragsbild: malija